Unter den Lebenden by Megged Eyal

Unter den Lebenden by Megged Eyal

Autor:Megged, Eyal [Megged, Eyal]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783827078018
Herausgeber: Berlin Verlag
veröffentlicht: 2015-04-28T16:00:00+00:00


11 Als ich die Einladung zu einem Kongress über Transplantationen in Kopenhagen erhielt – eine dieser Veranstaltungen, denen ich das Etikett Medical Tours anheftete –, kam mir wieder jene Schwester aus Dschesin in den Sinn, aber vor allem erinnerte ich mich daran, dass Boas in dieser Stadt zum ersten Mal ausländischen Boden betreten hatte. Das war ein ausreichender Grund für mich, der Einladung zu folgen. Seine Jungfernfahrt hatte im Sommer 1970 stattgefunden, und er erzählte mir davon mehrere Jahre später, als wir ein Herz und eine Seele geworden waren, lange bevor er der hingerissenen dänischen Schwester diese Reise so anschaulich schilderte: Wie er bei seiner Landung dort spürte, dass er »einen halben Meter über den Bürgersteigen« schwebte, und wie er sich nicht ausgemalt habe, dass dort alles ganz anders sein würde als hier. Er sei sich vorgekommen, als wandere er von einem Andersen-Märchen zum nächsten, flocht sogar Verse in seine Erinnerung: »Du trittst in einen Laden ein, und da läutet hell ein Glöckelein. Nach frischem Gebäck duftet’s auf allen Wegen, aus jeder Tür strahlt dir ein Lächeln entgegen.« Er erzählte mit leuchtenden Augen, er sei mit zwei blonden isländischen Gazellen ausgegangen, die er in der Jugendherberge kennengelernt hatte, und habe sich gefühlt wie Tonio Kröger, der junge Held aus Thomas Manns Erzählung, der die Welt entdeckt. Er war allein gefahren; Rakefet hatte es offenbar vorgezogen, daheim zu bleiben, aber Boas war das egal, er war auch ohne sie glücklich.

Er bekam sofort das Glück zu fassen, nicht wie ich, der schon bei der ersten Berührung mit der Fremde schwermütig wurde. Aber jetzt, dachte ich, würde es mir vielleicht gelingen, in Kopenhagen in seine Haut zu schlüpfen und dort glücklich zu sein, wie er. Vielleicht hat er mir etwas von seiner Fähigkeit, glücklich zu sein, vererbt, dachte ich, als das Flugzeug gerade über den Friedhof flog, auf dem er begraben liegt. Täglich überqueren Dutzende Flugzeuge sein Grab auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort, und in diesem Moment fliege auch ich darüber, dachte ich schaudernd, als ich aus dem Fenster sah und unter mir die Ödnis Tausender Grabsteine erblickte, von denen einer seiner war. Doch dieser Anblick stärkte in mir die müßige Hoffnung, es werde eine geistige Transplantation in meinem Innern stattfinden; Boas würde mir posthum, wie bei Transplantationen üblich, seine Gabe spenden.

Nach einer Flugstunde spürte ich das Glück einsickern. Ich schloss die Augen, aller Gedanken entleert bis auf diesen: Da kommt das Glück. Das Talent zum Glück, sagte ich mir, hängt auch von den Erwartungen ab. Immer hatte ich himmelhohe Erwartungen an eine Reise, und was Reisen mir antaten, habe ich ja schon erzählt; wie ich vor einer Reise hoffte, sie würde mein Leben verändern, doch sobald ich merkte, es bestand keine Hoffnung auf Veränderung, was fast umgehend geschah, wartete ich ungeduldig auf den letzten Tag. Und kam dann endlich der Moment der Rückkehr, klagte ich ununterbrochen, dass ich nun zurückfahren musste, als hätte diese Reise tatsächlich die ersehnte Veränderung im Schoß geborgen, als hätte ich tatsächlich etwas Großes verpasst. Doch jetzt,



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